Christian Rosengrün (1914–1962)
Christian Rosengrün wurde am 30. September 1914 in Nieder-Monjou, im Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen geboren. Wie in vielen Familien der damaligen Zeit war er kein Einzelkind, sondern hatte noch fünf weitere Geschwister.
Christian Rosengrün (1914–1962)
Deportiert, repatriiert oder repressiert von:
Nieder-Monjou (ASSR der Wolgadeutschen)
Deportiert, repatriiert oder repressiert nach:
Nowy, Rayon Kalmanski, Region Altai, Sibirien
Durch meine Großmutter Nelli weiß ich, dass Christian, also ihr Vater, ein wissbegieriger und gebildeter Mann war, der nicht sonderlich am dörflichen Leben hing. Er war gelernter Buchhalter und sprach ein sehr gutes Hochdeutsch und ein ebenso gutes Russisch.
Glücklich sind wir besonders darüber, dass uns nach all der turbulenten Zeit neben den Fotos von Christian und seiner Ehefrau Amalia auch eine schöne Urkunde von ihm vorliegt, die bezeugt, dass er als Vertreter der Wolgadeutschen Sowjetrepublik und Buchhalter der Kolchose "Eifer" bei der "Unionsweiten Landwirtschaftsausstellung" zugegen sein durfte; die Urkunde ist auf das Jahr 1941 datiert, sie muss also kurz vor der Deportation der Wolgadeutschen im August des Jahres ausgestellt worden sein.
Auf seinen Studienreisen, so beispielsweise nach Moskau, als die Wolgadeutsche Republik noch existierte, hatte er nicht nur Politiker hohen Ranges, sondern auch die erfolgreiche Folklore-Sängerin Lidia Ruslanowa alias Agafia Leykina während eines Konzertes live gesehen.
Dann kam die Zwangsumsiedlung in das Altai-Gebiet, Westsibirien. Ein Jahr darauf wurde auch Christian in ein Arbeitslager in der Teilrepublik Komi, Nordrussland, abtransportiert.
Alte Erinnerungen seien ihm dabei hochgekommen, erzählte meine Oma. Denn bereits sein Vater, der ebenfalls Christian (1884-1937) hieß, war schon 1937 aus Nieder-Monjou zu einem Verhör nach Saratow verschleppt und anschließend in ein Gefängnis in Omsk gesperrt worden. Angeblich sei er ein sogenannter ‘Regierungskritiker’ gewesen. Man erschoss meinen Ururgroßvater. Die Hinterbliebenen erhielten ein entsprechendes Dokument mit der angegebenen Todesursache: Gehirnschlag. Damals eine sehr weit verbreitete "Diagnose" bei den vermeintlich aufmüpfigen "Nichtrussen" ...
Uropa Christian Rosengrün überlebte das Lager und kehrte zu seiner fünfköpfigen Familie zurück. Meine Oma schilderte mir über diese Zeit Folgendes: "Nach fünf langen Jahren kehrte er in unser sibirisches Dorf Nowy in unsere typischen Grubenhäuschen zurück. Er fand erneut Arbeit als Buchhalter und versuchte sich wieder aufzurappeln. Aber über die Zeit dort erzählte er nichts. Na ja, außer dieser einen Andeutung, die er einmal machte: Als er nämlich – da war ich in der vierten Klasse – das Bild einer Brücke in meinem Geschichtsbuch entdeckte, deutete er mit dem Finger darauf und sagte: "Die haben die im wahrsten Sinne des Wortes aus Menschenknochen gebaut."
Nichtsdestotrotz versuchten Christian Rosengrün und seine Frau das Beste aus ihrer Lage zu machen. Sie genossen ihre freien Augenblicke in einer Art Schrebergarten, wo sich vor allem Wolgadeutsche trafen. Im Gegensatz zu Christian sprach Amalia nur ein gebrochenes Russisch. Statt die Sprache zu lernen, brachte sie einem russischen Nachbarsmädchen etwas Deutsch bei.
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Unionsweiten Landwirtschaftsausstellung - Urkunde für den Buchhalter der Kolchose Eifer Christian Rosengrün (1941)
Christian gab sich in der Verbannung in Sibirien nicht geschlagen und ergatterte eine Stelle als Buchprüfer der Rayon-Konsumgenossenschaft. Die Familie zog bald in die Bezirkshauptstadt Kalmanka um. Und am 15. Februar 1953 kam Christians und Amalias erstes Kind auf sibirischem Boden zur Welt: Meine Großtante Maria, die noch heute mit ihrem Mann in Russland lebt. Doch die großangelegte Feier, die Christian und Amalia für das Töchterchen organisiert hatten, lief etwas aus dem Ruder. Der Sowchose-Direktor Kurnajev reagierte plötzlich über, als er bunte Fahnen am Haus der Rosengrüns wehen sah, die die Familie einfach willkürlich für das Fest ausgesucht hatte. Noch am selben Abend stürmte eine Miliz-Gruppe das Haus und versetzte besonders die Kinder in Panik. Nach einem kurzen Verhör durfte Christian aber wieder zu seiner Familie. Meine Großmutter Nelli erinnerte sich: "Kurz darauf starb Stalin am 3. März 1953, der Schnee schmolz, die Sonne schien, unsere Lehrer weinten bittere Tränen, aber wir Kinder freuten uns über das Wetter ..."
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Christian und Amalia Rosengrün (ca. 1933)
Christian und Amalia Rosengrün starben früh; er an seinem Krebsleiden (1914-1962), sie an Tuberkulose (1913-1957). Mein Opa Karl Seibel, Ehemann meiner Oma Nelli, geb. Rosengrün, erinnerte sich noch daran, dass Christian sich kurz vor seinem Tod begeistert von einem Zeitungsartikel gezeigt hatte, der von alternativen Heilmethoden in naher Zukunft handelte. Er hoffte trotz allem auf eine Genesung.
Auch meine Oma Nelli (1940-2019) verschlug es in die Buchhalterei und in den kaufmännischen Bereich.
Im Jahr 1998 wanderte sie mit ihrem Mann nach Deutschland aus, wo sich das Paar in der Kleinstadt Hallenberg in Nordrhein-Westfalen niederließ, wo bereits ihre Tochter Lilli mit ihrer Familie lebte.
Die Menschenrechtsorganisation Memorial präsentiert unter folgendem Link einen Eintrag zu Christian Rosengrün mit Daten und Bildmaterial: Розенгрин Христиан Христианович (1914) — Открытый список (openlist.wiki)
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Christian Rosengrün (hintere Reihe Mitte) ca. 1946 in der Verbannung in der Teilrepublik Komi, Nordrussland
Edgar Seibel
Mit Familienbuch in dem Christian und Amalia Rosengrün sind.
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