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Katharina Janz mit Foto von Mutter Hulda Dell

Hulda Dell (1930-1997)

Geschrieben von Katharina Janz aus Felsberg am .

Meine Mutter Hulda/Helena Dell geb. Kopp wurde in der Ukraine, Dorf Weseliwka, Bezirk Korosten, Gebiet Shitomir, geboren. Sie und ihre Familie gehörten zu den Wolynien Deutschen. Ihre Eltern hießen Reinhold und Emma Kopp, geb. Zielke. In der Familie wurde hochdeutsch gesprochen. Hulda hatte 5 Geschwister: Samuel, Rubin, Sonja, Maria und Lydia. Der Vater Reinhold arbeitete als Leiter einer Kolchose.


Heinrich Werle, 1924-2007
Hulda Dell (1930-1997)

Deportiert, repatriiert oder repressiert von:
Ukraine, Gebiet Shitomir, Dorf Weseliwka

Deportiert, repatriiert oder repressiert nach:
Russland, Gebiet Wologda

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Hulda besuchte die Grundschule. Unterrichtet wurde zunächst auf Deutsch, ab 1938 nur auf ukrainisch. Sie war eine sehr fleißige Schülerin und wollte später Ärztin werden. Der Vater war sehr stolz auf sie und versprach ihr sie zu unterstützen. Er wollte sie zum studieren nach Kiew schicken. Unsere Mutter liebte Bücher über alles, diese Liebe zum Lesen hat sie an uns Kinder weitergegeben.

Leider war das Schicksal dieser Familie nicht gnädig. Sie waren zwar sehr froh darüber, dass der Vater Reinhold die stalinistischen Repressalien überstanden hatte, jedoch wurde er in den ersten Tagen nach Ausbruch des 2. Weltkrieges verhaftet und erschossen. Lange wusste die Familie nichts von seinem Schicksal, erst in den 60er Jahren hatte sie die Gewissheit darüber bekommen, dass der Vater schon lange hingerichtet war.

In den ersten Tagen nach Ausbruch des 2. Weltkrieges besetzte die deutsche Wehrmacht das Dorf der Familie Kopp. Die ganze Familie konnte sich problemlos auf Deutsch mit den Soldaten verständigen. Die Kolchosen wurden aufgelöst und die Familie bekam Land zugewiesen, um dieses zu bewirtschaften. Huldas ältester Bruder war zu dieser Zeit 13 Jahre alt. Mit vereinten Kräften und größten Anstrengungen bestellte die Familie ihre Felder.

Jedoch konnten sie sich nur ein Jahr an ihrer Ernte erfreuen. Im September 1943 war die deutsche Wehrmacht auf dem Rückzug und die Front rückte immer näher an das Dorf. Nun standen die deutschen Siedler vor einer Entscheidung. Bleiben würde heißen der sowjetischen Obrigkeit ausgeliefert zu sein. Daher entschieden sie sich zusammen mit tausend anderen deutschen Siedlern ihre Heimat zu verlassen und zu fliehen. Traurig schauten sie ihren ungeernteten Feldern hinterher.

Mit Pferdewagen und mit wenigen Habseligkeiten flohen sie nach Westen. Tag und Nacht hatten alle schreckliche Angst überfallen zu werden, sei es von Partisanen, die sehr feindlich zu deutschen Siedlern waren, oder von einfachen Banditen, die durch die Wälder zogen. Nachts war es besonders gefährlich, denn sie mussten sich selber beschützen. Halbwüchsige Jugendliche bekamen von den deutschen Truppen Gewehre zur Selbstverteidigung. Viele schaurige Geschichten hat uns Kindern meine Mutter später über die Flucht erzählt. Um die Kraft der Pferde zu schonen, mussten die etwas größeren Kinder hinterherlaufen. Nur die kleineren Kinder durften im Pferdewagen mitfahren. So zog der Flüchtlingstreck durch die Ukraine und weiter nach Polen. In Polen verstarb die kleine Schwester Lydia mit 2 Jahren und wurde am Rande des Weges begraben.

Ende 1943 kam die Familie Kopp nach Krotoschin/Breslau. Die Familie wurde in Wartegau eingebürgert. Meine Mutter musste zum BDM nach Markt Brandenburg. Als die russische Armee auf dem Vormarsch war, wurde die Familie weiter nach Westen verschickt. Sie kam auf einen Bauernhof im Dorf Piskaborn, in der Nähe von der Stadt Halle an der Saale. Ältere Geschwister mussten auf dem Feld helfen.

Im April1945 kamen die Amerikaner ins Dorf, die nach zwei Monaten wieder abzogen. Danach kamen die Russen. Menschen ,die in der ehemaligen Sowjetunion geboren waren, wurden registriert und auf Befehl der russischen Verwaltung zurück in ihre Heimat geschickt. Ihre wirkliche Heimat Ukraine haben sie nie wieder gesehen.

Die Familie Kopp wurde mit vielen anderen Familien in Viehwagons nach Norden ins Gebiet Wologda gebracht und einfach im Schnee abgeladen. Die Menschen fanden dort zerfallende Baracken, die früher für Gefangene vorgesehen waren, Viele verstarben bereits in den ersten Monaten .Meine Mutter musste im Winter schwere Baumstämme in Wagons laden. Kälte und Hunger haben tausenden Menschen, vor allem Kindern das Leben gekostet. Meine Mutter erzählte von einer Mennonitenfamilie, die 6 Mädchen hatte. Als ein Kind nach dem anderen gestorben war und nur noch die Mutter am Leben geblieben ist, verlor sie den Verstand.

Auch der älteste Bruder Samuel starb an den Folgen von Hunger, Kälte (bis -40 Grad) und Erschöpfung. Solange die Familie noch Sachen besaß, tauschte sie diese gegen Lebensmittel. Dafür musste sie zu den ersten russischen Siedlungen weit laufen. Eine besonders traurige Geschichte über meine Mutter hat uns Geschwistern Onkel Rubin erzählt. Er, 12 Jahre alt, meine Mutter 15 und Oma Emma waren einmal zu einem Tausch unterwegs. Sie konnten gefrorene Kartoffeln bekommen und machten sich auf den Rückweg. Meine Mutter hatte den schwersten Sack von allen zu tragen. Sie mussten durch den hohen Schnee stapfen was Ihnen viel Kraft abverlangte. Meiner Mutter hat die Kraft nicht gereicht. Weinend und erschöpft fiel sie in den Schnee und gab auf. Sie wollte nur noch sterben. Flehend und bettelnd baten die anderen sie aufzustehen, sonst würden sie alle erfrieren. Über 30 Kilometer zu laufen war viel zu viel. Zum Glück konnten sie von weitem kleine Lichter ihrer Siedlung sehen. So schaften sie es die letzten Kilometer bis zum Ziel.

Um dieser hoffnungslosen Lage zu entkommen endschied sich Oma Emma zu fliehen. Ihre beiden anderen Kinder Rubin und Sonja wollten nicht mit. Wir werden auf der Flucht sterben oder verhaftet, dachten sie. Daher gingen sie freiwillig ins Waisenhaus. Sonja wurde aufgenommen, Rubin wurde aus Platzmangel im Waisenhaus abgewiesen und stattdessen in einer Anstalt für schwererziehbare Jugendliche aufgenommen. Dort hatte er Gewalt und Schläge am eigenen Leib erfahren.

Wie verzweifelt musste eine Mutter sein, die ihre eigenen Kinder gehen lässt. Ich denke, sie wollte sie später zu sich holen. Das Schicksal hatte aber anderes mit den Flüchtigen vor. Sie gingen nach Osten, mal fuhren sie mit dem Güterzug, mal liefen sie zu Fuß. Oma Emma wollte zu ihren Brüder Albert und Wilhelm, die schon in den 20er Jahren nach Sibirien, Gebiet Omsk, gezogen sind. Unterwegs haben sie gehungert und sich von den Resten, die sie auf den Feldern fanden, ernährt. Oma ist krank geworden und mit 47 Jahren gestorben. Die Mädchen weinten 3 Tage lang. Danach gingen sie ohne Geld, einfach weiter. An einer Bahnstation hatte eine russische Frau Mitleid mit den Mädchen. Sie hatte ihnen eine Adresse gegeben, wo meine Mutter in einer Kolchose arbeiten könnte. Meine Mutter sprach gut russisch und ukrainisch. Der kleinen Schwester hat sie verboten auf deutsch zu sprechen und behauptete sie hätte Sprachfehler. Nur abends, als die Mädchen unter sich waren, sprachen sie ihre Muttersprache.

So landeten sie in einer Kolchose. Hulda melkte Kühe und brachte Maria oft heimlich einen Becher Milch nach Hause. Sie besaßen nichts außer einer Jacke aus Watte und ein paar Filzstiefel mit Löchern, die sie sich teilen müssten. So überlebten sie den schrecklichen Winter 1947 ohne Mutter.

Meine Mutter heiratete 1951 meinen Vater Jakob Dell .Sie bekamen 5 Kinder: Alexander, Viktor, Katharina, Margareta und Waldemar. Die Familie lebte in der Stadt Kopejsk, Gebiet Tscheljabinsk im Ural.

Sonja ist im Waisenhaus krank geworden, sie hatte Tuberkulöse und Herzprobleme. Deswegen war sie oft im Krankenhaus. Rubin hat seine eigene Familie gegründet. Meine Mutter hatte Sonja zu sich nach Ural eingeladen, aber sie hätte nie die Strapazen einer längeren Reise überlebt. Sie starb 1958.

1975 stellten wir einen Antrag für die Ausreise in die BRD. Leider wurde er von der russischen Behörde abgelehnt, mit der Begründung, dass die Tante, die bereits in der BRD wohnte, keine nähere Verwandte sei. Die Nachricht, dass die Familie Dell in die feindliche BRD ausreisen wollte, verbreitete sich schnell. Die Folgen dieses mutigen Schrittes haben wir ständig gespürt. Schikane an der Arbeit, feindselige Blicke der Nachbarn waren für uns schwer zu ertragen. Enttäuscht über die Absage für die Ausreise, zogen meine Brüder, in der Hoffnung von dort aus leichter auswandern zu können, nach Estland. Alexander hat dort Nina Puhan geheiratet. Die Eltern von Nina sind 1980 von Estland nach Deutschland ausgereist. So ergab sich die Möglichkeit für unsere Familie in den Jahren 1987-89 nach Deutschland zu gehen. Wir fanden unsere neue Heimat in Kassel, wo unsere Mutter bis zu ihrem Tod 1997 lebte.

Wir, Geschwister, haben unserer Mutter viel zu verdanken. Sie hat uns westlich und im freien Geist erzogen. Bei uns zu Hause wurden die deutschen Zeitungen „Neues Leben“, „Neue Zeit“, „Für dich“ gelesen und Schallplatten aus der DDR gehört. Leider waren damals nur Märsche - wie beispielsweise -„Die Partei hat immer recht“ von Ernst Busch, zu bekommen. Unsere Mutter schmunzelte darüber, die Hauptsache war, dass wir die deutsche Sprache hören konnten. Sie hat uns beigebracht eine eigene Meinung zu haben, egal in welchem politischen System man lebt. Ihre große Offenheit, ihr Interesse an den Menschen und der Welt sind Eigenschaften, die wir an unserer Mutter sehr schätzten. So behalten wir sie in unserer Erinnerung.




Katharina Janz

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