Johann Bomm (1908–2002)
Wenn ich meinen Vater mit einem Wort beschreiben müsste, hätte ich Hingabe gewählt. Alles, was mein Vater in seinem Leben tat, ob beruflich oder in Bezug auf die Familie, tat er mit tiefer Hingabe. Dafür brachten ihm die Menschen Respekt entgegen. Aber zurück zum Anfang…
Johann Bomm (1908–2002) / Foto von 1980
Deportiert, repatriiert oder repressiert von:
Zwetopol, Kreis Burla, Altai Region
Deportiert, repatriiert oder repressiert nach:
Arbeitslager in Tula Gebiet, Kreis Bolochow, Dorf Schwarz
Die ehemaligen Lagerinsassen, Bergleute der Sondersiedlung Schwarz (1946–1947)
Mein Vater stammte aus der deutschen Kolonie Kronental (Deutsch-Chaginsk /Нем-Хагинск) im Gebiet Stawropol (Nordkaukasus, Russland). Auf der Suche nach freiem Land zog die sechsköpfige Familie von Friedrich Bomm, meinem Großvater, im Frühling 1913 nach Altai. Die Träume des Großvaters gingen zuerst in Erfüllung: Friedrich bekam 45 Desjatinen Land, baute mit seiner Frau Anna-Katharina, geb. Seidler, ein neues Haus, eine Ölmühle. Doch der Erste Weltkrieg stand bereits vor der Tür und Friedrich wurde gleich nach der Mobilmachung des Zaren 1914 eingezogen. Er kam an die Westfront, in die Karpaten, wo er mit den russischen Kameraden gegen Österreich-Ungarn kämpfte. Am 16. Februar 1915 wurde Friedrich verletzt. Meine Großmutter Anna-Katharina war zu dieser Zeit in Sibirien schwanger mit dem fünften Kind Emanuel. Emanuel kam am 23. Februar 1915 zur Welt, genau an dem Tag, an dem sein Vater in einem Soldatenhospital in Kiew starb. Opa Friedrich wurde nur 33 Jahre alt.
Mein Vater Johann war zu dieser Zeit erst sieben Jahre alt, er war der Älteste in der Familie. Die Kindheit und Jugend von Johann fielen auf die Zeit der Russischen Revolution und des Bürgerkriegs. Er wuchs unter dem Einfluss des neuen kommunistischen Regimes auf. Im Jahr 1928, noch vor der angekündigten Kollektivierung, beschlossen meine Eltern zu heiraten. Johann suchte sich die 17-jährige Maria Neumann aus dem gleichen Dorf aus. Doch war das nicht nur ein Akt der wahren Liebe, sondern auch hartes Kalkül: Beide Familien galten im Dorf als reiche „Kulaken“, als Feinde der Kollektivierung, und beiden drohte aus diesem Grund eine Deportation in den Norden. Um beiden Familien dieses Schicksal zu ersparen, teilten die Bomms und die Neumanns ihre Gehöfte auf und verteilten sie unter den Kindern: Johann Bomm und Maria Neumann bekamen einen Teil, Georg Neumann und Mathilda Bomm den anderen. So wurde am 13. Oktober gleich eine Doppelhochzeit gefeiert und aus zwei Gehöften wurden vier, wodurch die Familien bei der Kollektivierung nicht mehr als Kulaken galten.
Nachdem die Auswanderung aus der UdSSR über China scheiterte und die Grenzen der Sowjetunion dicht gemacht wurden, engagierte sich Johann mit der neuen Ordnung und trat der Kolchose bei. Im Herbst 1930 wurde er in die Rote Armee einberufen. Er diente zuerst in der Stadt Omsk und später wurde seine Kompanie nach Blagoweschtschensk, eine Stadt am Fluss Amur an der chinesischen Grenze, disloziert. Im Visier seines Maschinengewehrs „Maxim“ konnte er am anderen Ufer die Chinesen beobachten. Doch das Wichtigste, was ihm die Armee lehrte, waren die Kenntnisse der russischen Sprache, was in seinem Leben noch oft eine wichtige Rolle spielen sollte. Sogleich nach seiner Rückkehr 1935 schicke ihn die Kolchose – nicht zuletzt auf Grund seiner guten Russischkenntnisse – zur zwei-jährigen Ausbildung zum Veterinär nach Slawgorod. Seine Rolle als Tierarzt in der Kolchose war so wichtig, dass diese ihn wohl vor den Säuberungen 1930er Jahre rettete.
In den 1930ern Jahren beschenkte Maria Johann mit sechs Kindern und er versuchte, für seine Familie einen bescheidenen Wohlstand aufzubauen. Er war ein tiefgläubiger Mensch und sprach oft davon, dass Gott ihn geschützt habe. Und das hatte er wohl mehrmals. Jedoch musste Johann auch harte Schicksalsschläge ertragen. Vermutlich als Folge des Hungers in Sibirien in den Jahren 1931 bis 1933 starben zwischen 1933 und 1934 zwei seiner Töchter. Im Großen Terror von 1937 bis 1938 verlor er viele seiner Freunde und Verwandten. Und dann kam 1941.
Familie von Johann Bomm 1952 im Regime der Sondersiedlung
Tula Gebiet, Dorf Schwarz
Die Deportation der Wolgadeutschen nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion betraf die Deutschen in der Altai-Region zuerst noch nicht. Erst im Februar 1942 wurde Johann zusammen mit anderen Dorfbewohnern zur Zwangsarbeit eingezogen. Sechs Monate bauten sie bei -30 Grad im Winter und über 30 Grad im Sommer einen strategisch wichtigen Eisenbahnabschnitt bei der Station Altaika (nähe Barnaul), der die Evakuierung der Industriebetriebe aus dem europäischen Teil der Sowjetunion nach Sibirien ermöglichte.
Im November 1942 wurden alle Männer aus Altaika in ein Arbeitslager in der Nähe von Tula verschickt. Das Gebiet Tula wurde gerade von der deutschen Besatzung befreit und die Kohlegruben sollten Moskau und die Umgebung mit Brennstoff versorgen. Um diese Arbeit zu verrichten, errichtete das NKWD hier mehrere Lager für die russlanddeutschen „Trudarmisten“. Eines davon war im Kreis Bolochow. Johann, der jetzt Ivan hieß, wurde seit dem 22. November 1942 als Bergmann unter Tage eingesetzt. Vier Jahre Höllenarbeit, Leben in der Gefangenenbaracke und ewiger Hunger. Johann sah viele seiner Kameraden sterben. Ihm selbst half zum Überleben, dass er als Nichtraucher ein paar Stückchen Brot gegen Tabak (Machorka) tauschen konnte. Besser wurde es erst Ende 1945: Die Lageraufsicht bestand zwar noch immer, wurde aber nachlässiger. Doch die angebliche Lockerheit war trügerisch. Eines Tages wollte Johann nach der Arbeit durch ein Loch im Zaun zur Post, um der Ehefrau ein Stück Seife nach Sibirien zu schicken. Plötzlich hörte er: “Стой! Стрелять буду! (Halt! Oder ich Schieße!)” Johann hob die Hände mit dem Päckchen und drehte sich um: Vor ihm stand ein NKWD-Soldat mit gezogener Waffe. Johann erklärte ihm auf Russisch, dass er nicht fliehen, sondern der Mutter seiner fünf Kinder ein Stück Seife schicken wolle. Der Soldat meinte: “Du weißt schon, dass wenn ich dich beim „Fluchtversuch“ erschieße, ich nicht mal Ärger bekomme?” Schauer lief Johann den Rücken hinunter. Würde sein Leben, nachdem er vier Jahre diese Hölle überlebte hatte, so abrupt enden? Doch der Soldat ließ Gnade walten: “Ich tue mal so, als ob ich dich nicht gesehen habe” und Johann durfte gehen. Ein paar Wochen später, am 22. November 1945, wurde das Lagerregime abgeschafft, die Lagerbewohner durften das Lager verlassen und sich eine Unterkunft in der Arbeitersiedlung unter Zivilisten suchen. Das war die Zeit der „Sondersiedlung“: Die Trudarmisten mussten nach wie vor zu ihrer Arbeit in den Untertagebau, jedoch bekamen sie ab jetzt für ihre Arbeit einen Lohn, und das nicht gering. Von heute auf morgen konnten die ehemaligen Lagerbewohner aus ihren Lagerlumpen raus und sich neue Kleidung und Lebensmittel leisten.
Im Herbst 1946 bekam Johann „für die gute Arbeit“ einen 10-tägigen Heimaturlaub zugestanden. Nach vier Jahren konnten die Ehefrau und die Kinder endlich ihren Ehemann bzw. Vater wiedersehen. Auch Johann sah zum ersten Mal seinen Sohn Rainhold, der in seiner Abwesenheit 1942 geboren wurde.
Zurück im Tulagebiet versuchte Johann, mit aller Kraft die Familie zu sich zu holen: Er stellte zahlreiche Anträge auf Familienzusammenführung, sparte Geld, schickte es nach Hause und suchte eine passende Unterkunft. Nach zwei Jahren, im Sommer 1948, zog die ganze, inzwischen siebenköpfige, Familie in ihr „neues-altes“ Haus, das aus den aus dem Bergwerk aussortierten Brettern zusammengeschustert wurde. In diesem „Haus“ kamen zwei weitere Kinder zur Welt, auch ich erblickte die Welt in dieser von der Schwarzkohle überstreuten Siedlung mit passendem Namen „Schwarz“.
Unser Vater arbeitete Tag und Nacht, um uns ein besseres Leben zu ermöglichen, doch die inzwischen hochschwangere Mutter vermisste ihre sibirische Heimat. Nachdem 1954 die Sonderaufsicht und die damit verbundene Freizügigkeitseinschränkung für Deutsche aufgehoben wurde, zog die Familie Bomm im Januar 1955 in ihr Heimatdorf Blumenfeld (heute Zwetopol, Gebiet Altai) zurück. Das letzte Kind der Familie wurde in der Heimat geboren. Doch die Heimat empfing ihre Kinder sehr kalt: Es gab keine freien Häuser im Dorf, keine weiterführende Schule, überall Armut. Die Jugend traf sich zum Tanz in einem Pferdestall.
Johann und Maria hatten zwar etwas Geld mitgebracht, jedoch fiel der Neuanfang mit neun Kindern sehr schwer. Johann traf die Entscheidung, als Veterinär in die benachbarte ukrainische Kolchose zu gehen. Im Herbst 1955, bevor der feste Frost kam, baute sich die Familie als Übergangslösung eine Erdhütte (Semlanka): mit bloßen Händen und nackten Füßen, mit Spaten und Beil. Und gleich im Frühling ging der Bau weiter. Jetzt sollte in eigener Regie ein Haus aus Lehmziegel gebaut werden. Nach der Arbeit, mit Hilfe aller Kinder, standen im Herbst zwei Zimmer und die Küche mit Ofen bereit. Solche kleinen Häuser waren damals normal. Die Kinder schliefen zu zweit oder zu dritt in einem Bett, die Hausaufgaben musste ich auf unserer einzigen Kommode machen, unsere wenigen Sachen wurden in den Koffern unter den Betten aufbewahrt. Das Leben auf dem kleinsten Raum war unser Zuhause für die nächsten zwölf Jahre.
Wie das für meinen Vater war, in einem ukrainischen Dorf als einziger Deutscher zu arbeiten? Fast alle Frauen im Dorf waren Witwen, die ihre Männer im Zweiten Weltkrieg durch die Deutschen verloren hatten. Die ukrainischen Frauen machten keinen Unterschied zwischen Nazi-Deutschen und Russlanddeutschen. Niemand lud unsere Eltern zu sich ein. Auch wir Kinder wurden am Anfang in der Schule beschimpft und verprügelt. Doch mein Vater hatte für alle Verständnis aufgebracht und mit seiner unermüdlichen Art den Respekt der Dorfbewohner verdient. Die Menschen merkten, dass Ivan Fedorowitsch sich nicht nur um die Tiere der Kolchose kümmerte, sondern zu jeder Tages- und Nachtzeit bereit war, zu einer Kuh zu kommen, die nicht kalben konnte, oder um das einzige Schwein zu retten, das für die Winterschlachtung vorgesehen war. Verlust der privaten Tiere bedeutete damals enormen Schaden für die Familien.
Man darf nicht vergessen, dass auch der Verlust einer Kuh aus der Kolchose für einen deutschen Veterinär – als Sabotage oder grobe Fahrlässigkeit ausgelegt – zu dieser Zeit Gefängnis hätte bedeuten können. Deswegen kam zu bestimmten Jahreszeiten (wie z. B. beim Lammen oder Kalben) unser Vater nicht mal nachts von der Arbeit nach Hause, sondern übernachtete im Kuhstall der Kolchose.
Trotz aller Entbehrungen war Russland für meinen Vater die einzige Heimat. Er wollte nicht weg, selbst als alle seine Kinder nach Deutschland gingen. 2002 kam er endlich als letzter aus der Familie nach Deutschland. Doch er lebte hier nicht mal mehr einen Monat und starb fünf Tage vor seinem 94. Geburtstag im Kreis der Familie.
Die Einwohner des Dorfes Zwetopol 1942 vor der Mobilisierung in die „Trudarmee“.
Archivinformation (2007) aus dem Staatsarchiv, Gebiet Tula
über den Lageraufenthalt von Johann Bomm, über seine Überstellung in die Sondersiedlung und die Liste der Familienmitglieder, die mit ihm wohnten.
Archivinformation (2008) vom Innenministerium, Gebiet Tula (Abteilung für Archivinformationen und Rehabilitation der Opfer politischer Verfolgung)
über den Arbeitslageaufenthalte von Johann Bomm (1942-45) und seine Überstellung in die Sondersiedlung (1945-54).
Bestätigung des Archivs (Tula)
über den Aufenthalt im Arbeitslager und in der Sondersiedlung, 1993
Archivdokument
über die Mobilisierung in die "Arbeitsarmee", 1991
Willi Bomm
Mit Foto von Vater Johann Bomm
Meine Mutter Mathilde ist mit Johann, ihrem Bruder, zusammen aufgewachsen. Sie haben ein sehr freundliches Geschwisterleben gepflegt und haben sich in allem gegenseitig ausgeholfen. Meine Mutter hatte von Johann stets mit großer Freude gesprochen, da er eine sehr zuverlässige, ehrliche und sehr gläubige Person war. Sie haben beide kein leichtes Leben gehabt – durch den Krieg, Armut, Verschleppung und vieles mehr.
Die letzte Begegnung war besonders aufregend. Onkel Johann ist nach Deutschland gekommen, daher wollte meine Mutter ihn unbedingt noch sehen. Sie selbst war schon 93 Jahre alt. Bei der Begegnung war Onkel Johann sehr krank. Es war sehr rührend und unbeschreiblich zu beobachten, wie liebevoll sie ihn umarmte und weinte dabei bitter. Sie wusste wahrscheinlich, dass es auch gleichzeitig ein Abschied für die Ewigkeit war.
Ich bin sehr dankbar meinem Onkel Willi Bomm, der ein großes Teil seines Lebens der Erforschung der Ursprünge unserer Familiengeschichte gewidmet hat.
Es war schon sehr spannend und interessant den schweren Lebenslauf meines Großvaters, Johann Bomm, der in einer deutschen Kolonie in Nordkaukasus angefangen hat, später durch Sibirien/ Altai/ Omsk, Fernosten und wieder über Sibirien/ Slawgorod, danach Tula, Siedlung Schwarz, weiter Altai/ Blumenfeld geführt und schließlich in Deutschland beendet hat, zu verfolgen.
Ich bin sehr stolz, dass ich zu dieser Familie gehöre und bin besonders dankbar meinem Onkel, der so viel Zeit, Mühe und Kraft in diese Arbeit investiert hat.
Vielen lieben Dank.